Appell von Intellektuellen
aus der Türkei
12.10.1999
Presseinformation
Gestern,
am 11. Oktober 1999, stellten die Schriftsteller Yasar Kemal,
Zülfü Livaneli, Orhan Pamuk, Ahmet Altan und Mehmed
Uzun auf in Pressekonferenz in Istanbul einen Appell für
Demokratie, Menschenrechte und die politische Lösung der
kurdischen Frage der Öffentlichkeit vor. Der Appell wird
durch einen internationalen Kreis von Intellektuellen unterstützt.
Seit dem Beginn des türkisch-kurdischen Konflikts ist es
das erste Mal, dass sich ein so breiter Kreis von Intellektuellen
für Demokratie, Menschenrecht und die Lösung der kurdischen
Frage in der Türkei einsetzt.
Die Türkei befindet sich heute an einem Scheideweg. Krieg
oder Frieden? Welchen Weg wählt die Türkei? Die Arbeiterpartei
Kurdistans (PKK) hat mit ihrem Schritt, den bewaffneten Kampf
einzustellen, in dem schon seit über fünfzehn Jahren
andauernden blutigen Konflikt eine neue Ausgangslage geschaffen.
Die internationale Staatengemeinschaft und Öffentlichkeit
sind gefordert, die Türkei dazu zu bewegen, den Weg des Friedens
unwiderruflich einzuschlagen. Nach wie vor ist die Situation des
zum Tode verurteilten Vorsitzenden der PKK, Abdullah Öcalan,
ungeklärt. Am 21. Oktober beginnt das Revisionsverfahren
vor dem obersten Kassationsgerichtshof der Türkei. Es ist
davon auszugehen, dass das Todesurteil bestätigt wird. Seine
Vollstreckung würde jedoch unvorhersehbare Folgen für
die Region haben. Zivile Initiativen wie die vom 11. Oktober tragen
zur Stärkung der Demokratiebestrebungen in der Türkei
bei. Deshalb verdienen sie die ganze Aufmerksamkeit und Unterstützung
der internationalen Öffentlichkeit.
Abdruck, Verwendung und Verbreitung sind ausdrücklich erwünscht.
[Deutsche Übersetzung: Internationale Initiative]
Als einer der blutigsten Zeitabschnitte der Menschheitsgeschichte
geht das zwanzigste Jahrhundert zu Ende. In diesen letzten Tagen
quält uns eine Frage: wird das einundzwanzigste Jahrhundert
so blutig wie das vergangene sein? Werden Waffen, Krieg und Gewalt
ihre Vorherrschaft behalten? Werden Rassismus, Nationalismus und
Hass gegen die "anderen" aufs Neue die Welt abschlachten
und in Brand setzen? Wird Unterdrückung auch weiterhin über
ethnische und gesellschaftliche Verantwortung dominieren?
Unsere Antwort auf diese Fragen ist ein kategorisches "Nein".
Das neue Jahrhundert und die Völker des neuen Jahrhunderts
haben die Verpflichtung, jegliche Form von Diskriminierung und
Unterdrückung zurückzuweisen.
Wir, die unterzeichnenden Schriftsteller und Künstler, wünschen
uns, die Türkei im nächsten Jahrhundert als eine führende
Vertreterin bei der Durchsetzung der Menschenrechte und der Demokratie
zu sehen. Wir glauben, dass die Türkei als integraler Teil
der zivilisierten Welt, den Willen und den Glauben besitzt, Freiheit,
Gleichheit und Gerechtigkeit für alle ihre Völker zu
verwirklichen.
Gegenwärtig ist die Türkei dafür bekannt, die vitalen
Regeln der Menschenrechte und der Demokratie zu verletzen. Sogar
von türkischen Regierungsmitgliedern wird diese Tatsache
zugegeben. Das entscheidende Problem ist die kurdische Frage.
Weil sie dieses Problem nicht angemessen gelöst hat, kann
die Türkei weder die gewünschten Schritte in der Frage
der Menschenrechte unternehmen noch die volle Demokratie erreichen.
Wir glauben, dass die Türkei die Kraft besitzt, das kurdische
Problem zu lösen. Keines der Bedenken der 1923 auf den Überresten
des osmanischen Reiches gegründeten jungen Republik hat heute
mehr Gültigkeit. Heute sind die ungefähr fünfzehn
Millionen Kurden in der Türkei unentbehrliche Staatsbürger.
Die Kurden fordern nur die Erhaltung ihrer Sprache und kulturellen
Identität und möchten als freie Staatsbürger in
der Einheit der Türkischen Republik leben, kurdisch lesen
und schreiben und im Kurdischen unterrichtet werden, arbeiten,
dienen und ihr Glück suchen bei Bewahrung ihrer besonderen
Eigenart und Kultur.
Seit 1923 gab es rigide politische Anstrengungen zur Türkisierung.
Kurdisch wurde als Erziehungssprache und Kommunikationsmittel
verboten. Unter diesem Zwang wurden zahllose Menschen verhaftet
und bestraft. Zehntausende Namen von Städten, Dörfern,
Weilern, Bergen, Tälern und Hügeln wurden durch türkische
ersetzt. Bei der Gelegenheit bezeichnete man die Kurden als "Bergtürken".
In der Verfassung und anderen Gesetzbüchern wurde diese Politik
verankert.
Doch ist keine dieser Maßnahmen erfolgreich gewesen. Die
Kurden sind nicht zu Türken geworden. Die kurdische Frage
wurde nicht gelöst. Die blutgetränkten - und unerschwinglich
teuren - Ereignisse der letzten 15 Jahre bekräftigen: Gewalt
ist kein Ausweg. Mit Gewalt ist weder die Türkisierung der
Kurden zu realisieren noch wird sie den Kurden zu ihren Rechten
verhelfen.
Die Türkei muss nun mit einem für die gesamte Welt und
das neue Jahrhundert beispielhaften Schritt die kurdische Frage
lösen, indem sie ihre kurdischen Staatsbürger in ihren
eigenen Rechten wahrnimmt. Wir glauben, dass ein solcher Schritt
die Türkei wirtschaftlich, gesellschaftlich und kulturell
sehr stärken und bereichern wird. Kurdisch ist eine der reichsten
lebenden Sprachen der mesopotamischen Zivilisation. Es besitzt
sowohl eine reiche klassische Literatur wie eine vielfältige
musikalische Tradition und eine blühende moderne Literatur.
Die überaus alte kurdische Geschichte und ihr kulturelles
Erbe gehören uns allen.
Anstatt sie zu leugnen oder herabzusetzen, müssen diese Kostbarkeiten
zum lebendigen Bestandteil des Reichtums der Türkei werden.
Die Kurden, die in der gesamten Geschichte im Völkermosaik
Anatoliens ein Drittel ausgemacht haben, dürfen nicht länger
diskriminiert werden. Sie müssen ihre Rechte und ihre Würde
erhalten, damit sie in Anatolien und der Türkei wieder zu
einem dynamischen Ganzen werden können. Kurdisch muss zur
Schul- und Ausbildungssprache werden. Die Notwendigkeit kurdischen
Rundfunks und Fernsehens muss anerkannt werden. Das Recht auf
die kurdische Sprache, Kultur und Identität muss in der Verfassung
verankert werden.
Wir appellieren an den Präsidenten, den Ministerpräsidenten,
das Parlament und die Regierung: Bitte befreien Sie die Türkei
von ihrer Schande. Während Sie sich um die Wunden des schrecklichen
Erdbebens kümmern, das uns alle betrübt hat, wenden
Sie sich bitte auch den gesellschaftlichen Wunden zu, die seit
über siebzig Jahren bluten.
Im 21. Jahrhundert soll die Türkei stolz dastehen, als Leuchtfeuer
und Verkörperung humanitärer und demokratischer Werte.
Erstunterzeichner:
Yasar Kemal (Schriftsteller),
Zülfü Livaneli (Schriftsteller, Künstler),
Orhan Pamuk (Schriftsteller),
Ahmet Altan (Schriftsteller),
Mehmed Uzun (Schriftsteller)
Unterzeichner:
Günter Grass (Schriftsteller / Nobelpreis für Literatur
1999 / Deutschland),
Nadine Gordimer (Schriftstellerin / Nobelpreis für Literatur
1991 / Südafrika),
Ingmar Bergman (Regisseur, Schriftsteller / Schweden),
Costa Gavras (Regisseur / Frankreich),
Harold Pinter (Schriftsteller / Großbritannien),
Jose Saramago (Schriftsteller / Nobelpreis für Literatur
1998 / Portugal),
Arthur Miller (Schriftsteller / USA),
Maurice Bejart (Choreograph / Frankreich),
Elie Wiesel (Schriftsteller / Friedensnobelpreis 1986 / USA),
Jack Lang (Schriftsteller / ehem. Kulturminister / Frankreich),
Adonis (Schriftsteller / Libanon),
Bibi Andersson (Schauspielerin / Schweden),
Margaret Atwood (Schriftstellerin / Kanada),
John Berger (Schriftsteller / Großbritannien),
Suzanne Brøger (Schriftstellerin / Dänemark),
Adriaan van Dis (Schriftsteller, Regisseur / Holland),
Mahmud Doulatabadi (Schriftsteller / Iran),
Margaret Drabble (Schriftstellerin / Großbritannien),
Kerstin Ekmann (Schriftstellerin / Schweden),
Richard Falk (Schriftsteller / USA),
Lady Antonia Fraser (Schriftstellerin / Großbritannien),
Juan Goytisolo (Schriftsteller / Spanien),
Sir David Hare (Schriftsteller / Großbritannien),
Ronald Harwood (Schriftsteller, Regisseur / Großbritannien),
Erland Josephson (Schriftsteller / Schweden),
Michael Holroyd (Schriftsteller, Regisseur / Großbritannien),
Yoram Kanluk (Schriftsteller / Israel),
Jaan Kaplinski (Schriftsteller / Estland),
Nikos Kasdaglis (Schriftsteller / Griechenland),
György Konrad (Schriftsteller / Ungarn),
Alberto Manguel (Schriftsteller / Argentinien),
Adam Michnik (Schriftsteller, Journalist / Polen),
Kai Nieminen (Schriftsteller / Finnland),
William Nygaard (Verleger / Schweden),
Monika van Paemel (Schriftstellerin / Belgien),
Herbert Pundik (Verleger, Journalist / Dänemark),
Claude Regy (Schriftsteller / Frankreich),
Klaus Rifbjerg (Schriftsteller / Dänemark),
Bernice Rubens (Schriftsteller / Großbritannien),
Arne Ruth (Journalist, Akademiemitglied / Schweden),
Johannes Salminen (Schriftsteller, Verleger / Finnland),
Antonis Samarakis (Schriftsteller / Griechenland),
Kirsti Simonsuuri (Schriftstellerin / Finnland),
Thorvald Stehen (Schriftsteller, Präsident des Schriftstellerverbandes
/ Schweden),
Sigmund Strømme (Verleger / Schweden),
Birgitta Trotzig (Schriftstellerin, Akademiemitglied / Schweden),
Liv Ullman (Regisseurin, Schauspielerin / Schweden),
Andre Velter (Schriftsteller / Frankreich),
Günter Wallraff (Schriftsteller, Journalist / Deutschland),
Georg Henrik von Wright (Philosoph, Schriftsteller / Finnland),
Per Wastberg (Schriftsteller, Akademiemitglied / Schweden),
Moris Farhi (Schriftsteller, Generalsekretär des englischen
PEN-Clubs / Großbritannien),
Homero Aridjis (Schriftsteller, Präsident des Internationalen
PEN-Clubs / Mexiko),
Elisabeth Nordgren (Journalistin, Präsidentin des PEN-Clubs
/ Finnland)