14. Januar 2005

6 Jahre Isolation, 6 Jahre Folter - Der Fall Öcalan als Lackmustest für die türkisch-europäische Menschenrechtspolitik

INTERNATIONAL INITIATIVE BRIEFINGS:
6 Jahre Isolation, 6 Jahre Folter:
Der Fall Öcalan als Lackmustest für die türkisch-europäische Menschenrechtspolitik

Am 15. Februar 1999 wurde der Kurdenführer Abdullah Öcalan von Kenia in die Türkei verschleppt. Vorausgegangen war eine wochenlange Odyssee zwischen Damaskus, Moskau, Athen, Rom und Amsterdam – krimineller Schlusspunkt unter einem völkerrechtswidrigen Piratenakt, unter maßgeblicher Beteiligung des CIA, MIT und Mossad – klägliches Scheitern einer ominösen europäischen Rechtskultur.

Seitdem wird Abdullah Öcalan unter menschenunwürdigen Isolationshaftbedingungen auf der türkischen Gefängnisinsel Imrali gefangen gehalten. Sein Gesundheitszustand ist stark angegriffen. Besuche seiner Rechtsanwälte und Angehörigen werden häufig willkürlich verweigert. Seine Informations- und Kommunikationsmöglichkeiten sind äußerst beschränkt. Die Rechtsanwälte, die den Kurdenführer rechtlich betreuen, werden kriminalisiert. Viele von ihnen müssen mit hohen Haftstrafen rechnen.

Einerseits fordert das Antifolterkomitee des Europarates (CPT) die Aufhebung der Isolationshaft von Abdullah Öcalan, andererseits unternimmt der Europarat keine Schritte, um die Forderung einer seiner Institutionen Nachdruck zu verleihen. Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte beschäftigt sich schon seit Jahren mit dem Fall Öcalan. Immer noch ist kein Urteil gefasst, nach wie vor wird das Beschwerdeverfahren verzögert.

Der 15. Februar 1999 war jedoch auch ein Wendepunkt im türkisch-kurdischen Konflikt. Die Hoffnungen auf einen Niedergang des kurdischen Aufstands stellten sich schnell als nichtig heraus. Trotz drohender Hinrichtung bot Öcalan seine Hand zum Frieden und rief die kurdischen Rebellen zur einseitigen Beendigung des blutigen Krieges auf. Gleichzeitig verband er dies mit der Forderung nach Anerkennung kultureller und sprachlicher Rechte für die Kurden und einer tief greifenden Demokratisierung der Türkei. Erst dieses Friedensangebot eröffnete der Türkei die europäische Perspektive, die mit der Zuerkennung des Beitrittskandidatenstatus verbunden ist.

Mit dem Beschluss der Europäischen Union vom 17. Dezember 2004, im Oktober 2005 Beitrittsgespräche mit der Türkei aufzunehmen, ist eine neue politische Situation eingetreten. Ohne große Zugeständnisse, außer in der Zypernfrage, hat die Türkei ihr Ziel, einen Termin für die Aufnahme von Beitrittsgesprächen zu erhalten, erreicht. Wider besseres Wissen um die katastrophale Menschenrechtslage in der Türkei hat die EU eine weitgehende Erfüllung der Kopenhagener Kriterien festgestellt. Und dies trotzt der alarmierenden Berichte von Menschenrechtsorganisationen wie Human Rights Watch, Amnesty International und des türkischen Menschenrechtsvereins (IHD) über fortgesetzte Folter auf in türkischen Polizeiwachen und Gefängnissen. Die kurdische Frage blieb auch auf dem EU-Gipfel vom 17. Dezember 2004 ausgespart. Immer noch harrt sie ihrer Lösung. Europa hingegen begnügt sich nicht nur damit, sich aus seiner Verantwortung zu stehlen, indem es das Problem ignoriert. Einzelne Mitgliedstaaten wie Deutschland beziehen so gar einseitig Position, indem sie kurdische Politiker kriminalisieren und somit die Türkei in ihrer kurdenfeindlichen Politik ermutigen.

Zwar hat die Türkei im Rahmen des Annäherungsprozesses an die Europäische Union vielerlei Anstrengungen für einen demokratischen Umbau unternommen. Dies ist durchaus als positiv zu werten. Die auf den Weg gebrachten Reformen gestehen indirekt auch den Kurden begrenzte sprachliche und kulturelle Rechte zu. In der Praxis hat sich dies leider vorwiegend als Makulatur erwiesen. Immer noch halten die systematischen Menschenrechtsverletzungen an der kurdischen Zivilbevölkerung an. Weiterhin werden Oppositionelle repressiv verfolgt. Extralegale Hinrichtungen, wie kürzlich in Kiziltepe, wo ein zwölfjähriger Junge und sein Vater buchstäblich von Kugeln durchsiebt wurden, nehmen wieder zu. Friedlichen Protesten der Zivilbevölkerung wird nach Jahren relativer Ruhe wieder mit Waffengewalt begegnet. Eine politische Lösung der kurdischen Frage scheint wieder in weite Ferne gerückt.

So spiegeln die Haftbedingungen auf Imrali, aber auch in anderen türkischen Gefängnissen, exemplarisch die Gesamtsituation des Landes wieder. Sie zeigen, wie weit die Türkei noch von wirklicher Demokratie und Rechtstaatlichkeit in Europa entfernt ist. Imrali ist gleichsam ein Symbol für den zwiespältigen Umgang Europas mit den Menschenrechten. Das europäische Schweigen im Fall Öcalan trägt zu dem unhaltbaren Zustand bei. Die Grundwerte europäischer Demokratie haben, so scheint es, für die Kurden keine Gültigkeit.

Indes hat die kurdische Seite im türkisch-kurdischen Konflikt ihren einseitigen Waffenstillstand mit dem 1. Juli des vergangenen Jahres aufgekündigt. In mehreren Verlautbahrungen machte die kurdische Guerilla deutlich, dass die ignorante Haltung der AKP-Regierung gegenüber der kurdischen Frage, die zunehmenden militärischen Operationen der türkischen Armee gegen die eigenen bewaffneten Kräfte und das repressive Vorgehen gegenüber der kurdischen Zivilbevölkerung nicht mehr hingenommen werden könne. Man werde bis auf weiteres vom legitimen Recht auf Selbstverteidigung Gebrauch machen. Derweil nehmen die bewaffneten Auseinandersetzunge zwischen der türkischen Armee und der kurdischen Guerilla an Intensität zu. Es scheint gar so, dass zum Frühjahr 2005 mit einem weiteren Waffengang der Kontrahenten zu rechnen ist, sollte die türkische Regierung keine ernsthaften Schritte für eine Lösung der kurdischen Frage unternehmen. Erst kürzlich erklärte Öcalan, dass er für eine friedliche Lösung alles ihm Mögliche getan habe. Er ziehe sich aus seiner Vermittlerposition zwischen dem türkischen Staat und der kurdischen Guerilla zurück.

Eine erneute Eskalation des Konfliktes muss unbedingt verhindert werden. Eine internationale Initiative zur Lösung des Konfliktes ist mehr als überfällig. So ist deutlich geworden, dass für eine Lösung die „integrative Dynamik der Kopenhagener Kriterien“ bei weitem nicht ausreicht. Um eine dauerhafte Lösung zu erreichen, muss das Problem beim Namen genannt werden! Das Augenmerk der internationalen Gemeinschaft muss sich endlich, ähnlich wie beim Israel-Palästinakonflikt, auf die kurdische Frage richten. Die Kontrahenten des Konfliktes sind dazu anzuhalten, das Problem auf dem Weg des Dialoges zu lösen. Die kurdische Seite hat mehrfach eindrucksvoll deutlich gemacht, dass sie für solch einen Prozess bereit ist. Es ist nun an der Türkei, konstruktive Schritte zur Aussöhnung mit der eigenen kurdischen Bevölkerung zu unternehmen. Die Aufhebung der Isolationshaftbedingungen von Öcalan, wie dies auch das Antifolterkomitee des Europarates (CPT) fordert, wäre ein erster Schritt zur Entspannung.