Die kurdische Frage und europäisches Recht - Letzter Akt im Öcalanverfahren

Internationale Initiative
Freiheit für Abdullah Öcalan - Frieden in Kurdistan
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INTERNATIONAL INITIATIVE BRIEFINGS:
Die kurdische Frage und europäisches Recht - Letzter Akt im Öcalanverfahren

Am 9. Juni 2004 beginnt das Revisionsverfahren vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte
Nach dreijähriger Verhandlungsdauer fällte der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte am 13. März 2003 sein Urteil im Beschwerdeverfahren Abdullah Öcalan versus Türkei. Demnach habe der Kurdenführer kein faires Verfahren vor einem unabhängigen Gericht erfahren, sein Recht auf Verteidigung sei eingeschränkt gewesen und er habe inhumane Behandlung durch die Verhängung der Todesstrafe erlitten. Diese Feststellung des Gerichtshofes werteten die Rechtsanwälte von Abdullah Öcalan durchaus positiv, wenn auch als ausgesprochen ungenügend. Umgehend legten sie Revision ein. Aber auch die Türkei war unzufrieden, weshalb sie sich diesem Schritt anschloss.
Was sind die Gründe für den Widerspruch der Beschwerdeführung? Nach Meinung der Öcalan-Anwälte sei ein zentraler Verstoß gegen Artikel 5 der Europäischen Menschenrechtskonvention vom Gericht nicht zur Kenntnis genommen worden. Diesen sehen sie in der rechtswidrigen Entführung Abdullah Öcalans am 15. Februar 1999 aus Nairobi (Kenia). Nach Ansicht der Anwälte hätte sich das Gericht auch mit den Umständen der Verschleppung beschäftigen müssen, die aber vom Gericht völlig außer Acht gelassen worden seien. Eine Verweigerung einer Untersuchung würde jedoch dem allgemeinen Rechtsempfinden widersprechen. Ein weiterer Punkt sei die Todesstrafe. Zwar sei diese mittlerweile aufgehoben; Abdullah Öcalan unterliege jedoch seit seiner Verbringung auf die türkische Gefängnisinsel Imrali einem Haftregime der Totalisolation, welches auch ein Verstoß gegen das Folterverbot darstelle, wie dieser vom Gericht bei der Verhängung der Todesstrafe und der Ungewissheit über ihre Vollstreckung festgestellt wurde. Hierbei habe die kleine Kammer des Europäischen Gerichtshof keine eindeutige Stellung bezogen. Die Türkei hingegen wehrt sich gegen die Feststellung des Gerichtes, dass das Verfahren gegen Abdullah Öcalan nicht rechtstaatlich gewesen sei; denn mit dieser Feststellung ist auch der Status der Person Öcalans deutlich geworden: Er ist ein politischer Gefangener, der aufgrund eines immer noch ungelösten Konfliktes in Gefangenschaft geraten ist. Die Möglichkeit einer solchen Interpretation möchte die Türkei jedoch unbedingt vermeiden.
Nun soll neu verhandelt werden. Am 9. Juni 2004 beginnt das Revisionsverfahren vor der großen Kammer des Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte in Straßburg. 19 Richter werden über die obenstehenden Beschwerdepunkte zu entscheiden haben. Was sind die Erwartungen der Öcalan-Anwälte? In einer Stellungsnahme gegenüber dem Koordinationsbüro der Internationalen Initiative machten sie deutlich, dass es für sie oberste Priorität habe, dass die Verschleppung als ungesetzlich festgestellt werde. Dabei soll auch Abdullah Öcalan persönlich angehört werden. Ob dies auf Imrali oder per Videokonferenz geschieht, macht für sie keinen Unterschied. Des weiteren erwarten die Anwälte eine nochmalige Bestätigung, dass das Verfahren gegen Öcalan nicht fair gewesen sei, eine Aufforderung zur Aufhebung der Isolationshaft und deren Verurteilung als Verstoß gegen die Europäische Menschenrechtskonversion, sowie die Zurückweisung aller diskriminierenden Maßnahmen gegen Abdullah Öcalan. Die Öcalan-Anwälte wünschen sich auch, dass das Gericht mehr als bisher den politischen Hintergrund des Verfahrens einbeziehen möge, da zwar Abdullah Öcalan zweifellos ein Individuum aber trotzdem auch ein Produkt eines Konfliktes sei, den er nicht allein zu verantworten habe. Im Rahmen der Suche einer einvernehmlichen Lösung zwischen den Verfahrensparteien müsse auch die kurdische Frage und eine demokratische Lösung zur Sprache kommen. Andernfalls sehe man sich nicht zu einer gütlichen Einigung im Stande.
Am 9. Juni 2004 wird sich zeigen, inwieweit europäisches Recht zu einer Lösung der kurdischen Frage beitragen kann. Tausende gegen die Türkei gerichteter Verfahren, in denen die Türkei mehrheitlich für schwerwiegende Menschenrechtsverletzungen verurteilt wurde, zeigen, dass hier kein Problem vorliegt, was sich individualisieren ließe. Zwar kann auch der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte seinen gegeben Rahmen nicht verlassen. Er schützt die Rechte Einzelner im Bereich des Europarates. Wenn auch innerstaatliche Konflikte letztendlich individuelle Komponenten haben, lässt sich daraus kein ursächlicher Zusammenhang herstellen. Hinsichtlich der ungelösten kurdischen Frage darf man vom Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte zumindest erwarten, dass er dieser Realität Rechnung trägt. Andernfalls wird er seiner Mission nicht gerecht, europäisches Recht zu wahren. Fest steht doch schon jetzt, dass die Türkei noch einen langen Weg zu einer wirklichen Demokratie zurückzulegen hat. Daran werden auch die an den eigenen wirtschaftlichen Interessen orientierten Lobeshymnen einiger EU-Strategen gegenüber den Reformen in der Türkei nichts ändern. Denn ohne eine Lösung der kurdischen Frage wird es keine demokratische Türkei geben. Und eine undemokratische Türkei als Mitglied der EU muss ausgeschlossen sein.